Arbeit anders denken!

Fachkräftemangel ist für die Paderborner Ergotherapeutin Sandra Altrogge ein Fremdwort. Seit ihrem Start in die Selbständigkeit im Jahr 2020 hat die Praxisinhaberin ihr Personal nahezu verdoppelt – ohne eine einzige Stellenanzeige geschaltet zu haben. Ihr Rezept: Eine offene Kommunikation mit ihrem Team in allen Praxisfragen und ihre Einbeziehung in alle Entscheidungen – quasi ein Miteinander auf Augenhöhe. „Keiner gibt sein Leben vor der Praxis ab, sondern wir leben auch in der Praxis“, betont sie voller Stolz. Arbeit anders denken, war ihr Motto, als sich die heute 37-Jährige mit dem Gedanken anfreundete, die Praxis ihrer ehemaligen Chefin zu übernehmen. Eigentlich wollte sie nicht per se selbstständig werden, aber wenn es denn sein sollte, wollte sie die Arbeit auf jeden Fall anders gestalten. Anregungen für ihren neuen Weg fand Sandra Altrogge u. a. in den Büchern „Unlearn Patriarchy Teil 1 und 2“, dem Buch von Naomi Ryland und Lisa Jaspers „Starting a Revolution“ sowie durch den Austausch mit Kollegen. Auf dieser Grundlage hielt Sandra Altrogge schriftlich fest, was ihr wichtig war. „Ich habe es mein Praxishandbuch genannt. Und nach einem halben Jahr der Selbstständigkeit habe ich es allen Mitarbeiterinnen zur Verfügung gestellt, und wir haben gemeinsam unser Praxishandbuch daraus gemacht.“ Praxishandbuch als Grundgerüst Seither dient das Praxishandbuch als Grundgerüst für alle Entscheidungen, die stets im Praxisteam gemeinsam getroffen werden. „Jede Mitarbeiterin darf sich und ihre Ideen einbringen“, sagt Sandra Altrogge. „Es macht einfach Spaß, gemeinsam neu zu denken! Und so kann sich bei uns jede auf ihre eigene Art verwirklichen, ihre Arbeit als sinnhaft erleben und mit Freude füllen.“ Alle Vereinbarungen, die einmal gemeinschaftlich im Team erarbeitet wurden, kommen jedes Jahr auf den Prüfstand und werden aktualisiert. „Ich bin von diesem Luxus überfordert!“ Erfolg beginnt im Kopf – oder wie es heute heißt beim Mindset, erklärt Sandra Altrogge: Der Schlüssel dazu liegt in einer veränderten Denkweise, Mentalität und Geisteshaltung. Das setzt mehr Transparenz voraus, Wertschätzung und Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen. „Das Praxishandbuch gibt die Regeln vor – meine Mitarbeiterinnen erfüllen es mit Leben und entscheiden selbstständig in ihren Bereichen.“ Die Freiheiten, die man sich in der Praxis selbst erlauben darf, sind für „Neulinge“ im Team manchmal ein wenig gewöhnungsbedürftig – so formulierte eine Mitarbeiterin einmal: „Ich bin von diesem Luxus überfordert!“ Wöchentliche Teamsitzungen Sandra Altrogge ist überzeugt, dass es ihre Pflicht ist, als Arbeitgeberin dafür zu sorgen, dass es ihren Angestellten gut geht. Ob das der Fall ist, erfährt sie in den wöchentlichen Teamsitzungen. Dort werden alle Belange der Praxis zur Sprache gebracht. „Wenn jemand mit irgendetwas unzufrieden ist oder Bauchschmerzen hat, wird das offen ausgesprochen und gemeinsam diskutiert.“ Nichts sei schlimmer, als wenn sich Unmut erst aufstaut oder hinterm Rücken darüber natürlich von allen ein großes Maß an Vertrauen untereinander und die Bereitschaft, mit konstruktiver Kritik auch umgehen zu können. Bonussystem für zusätzliche Aufgaben Die Wertschätzung, die im Praxisalltag gelebt wird, zeichnet sich auch in einem besonderen Entlohnungssystem aus, das Sandra Altrogge in Zusammenarbeit mit ihrem Team zum 1. Oktober 2023 eingeführt hat. „Der Prozess dauerte vier bis fünf Monate, bis wir gemeinsam den richtigen Kompromiss gefunden hatten.“ In diesem System wird nicht die therapeutische Leistung honoriert, sondern es gibt Bonuspunkte für bestimmte Care-Aufgaben, die freiwillig übernommen werden können. „Meine Idee dahinter war“, meint die Praxischefin rückblickend, „auch Dinge zu entlohnen, die keiner sieht oder die nicht genügend Wertschätzung erfahren.“ Betriebszugehörigkeit, mehr Verantwortung oder Care-Arbeit für Kinder So können Bonuspunkte u. a. gesammelt werden durch … - die Dauer der Betriebszugehörigkeit: Ab dem dritten Jahr gibt es einen Punkt pro Monat, - die Übernahme eines Verantwortungsbereichs wie das Berichtswesen, eine Fachleitung, die Betreuung von Praktikant:innen oder auch die Abrechnung – alles, was der Praxischefin eine Entlastung bringt. - die Übernahme des Abschließdienstes: Wer sich an einem festen Tag in der Woche darum kümmert, Fenster, Licht, Waschmaschine, Trockner, Telefon, Handy, E-Mail zu kontrollieren, bekommt einen Punkt. - Care-Aufgaben in der Familie: Wer Kinder unter 18 Jahren betreut oder Angehörige pflegt, erhält einen Punkt. - die Durchführung von sechs Doppelbehandlungen oder Gruppen für Kinder oder Erwachsene im Monat. Für jeden Bonuspunkt erhält die Mitarbeiterin eine pauschale Summe von 25 Euro pro Monat. Ausgezahlt wird nach einem Quartal. Wer also von Oktober bis Dezember 2023 insgesamt vier Bonuspunkte gesammelt hat, bekommt im Februar 100 Euro mehr auf sein Konto überwiesen. Für das zweite Quartal konnte die Pauschale verdoppelt werden, da der Umsatz nach Aussage der Praxischefin überdurchschnittlich gut war. Soft Skills scheinen mehr Frauen anzuziehen Doch das Bonussystem allein ist nicht der Grund, warum Sandra Altrogge keine neuen Mitarbeiter:innen suchen muss. Sie bekommt im Schnitt monatlich zwei Initiativ-Bewerbungen. Sie verabredet sich mit allen Interessierten. „Wenn die Chemie schon am Telefon stimmt, lade ich dazu ein, einen Probetag bei mir zu absolvieren. Die Bewerberin begleitet dann meine Mitarbeiterinnen an diesem Tag – denn auch sie sollen entscheiden, ob sie mit der Neuen klarkommen…“ Es gebe Werte, die für potenzielle Bewerberinnen und Bewerber attraktiv zu sein scheinen, berichtet die Praxischefin. Auf ihrer Instagram-Seite sind die Werte aufgelistet, auf die im Praxisalltag besonderen Wert gelegt wird. Dort tauchen u. a. Begriffe auf wie Ruhe außerhalb der Arbeitszeit, Freiheit, Resilienz, Respekt, Engagement, Mitgefühl oder Sanftmut – alles Beispiele für sogenannte weiche Kompetenzen oder Soft Skills. „Vielleicht ist das auch der Grund, dass sich Frauen dadurch häufiger angesprochen fühlen und sich bei mir bewerben…“ Begriff „New Work“ mit Leben füllen Neue Wege im Arbeitsleben zu beschreiten, wird oftmals als „New Work“ bezeichnet – ein Begriff, mit dem sich Sandra Altrogge nur schwer anfreunden kann, da viele damit lediglich Homeoffice assoziieren. „New Work“ habe keine feste Definition und bliebe oft nur eine leere Worthülse, die mit Leben gefüllt werden will und gelebt werden muss. Für die Praxischefin bedeutet „New Work“, sich die Bedingungen und Ressourcen im Arbeitsalltag anzuschauen und daraus eine passende Antwort zu entwickeln. Ein Weg, der nicht immer leicht sei und auf Widerstand stoßen kann. „Es erfordert daher auch Mut, gegen den Strom zu schwimmen“, sagt sie, „wie oft höre ich von ‚alten Hasen‘, dass man das nicht so machen könne.“ Doch sie bleibt ihrem Kurs treu. Und der Erfolg scheint ihr Recht zu geben. „Fragen Sie meinen Steuerberater. Er sagt, ich sei unter den Heilmittelerbringern, die er betreut, diejenige, die die besten Umsätze und Gewinne vorzeigen kann.“ Im vierten Quartal 2023 hatte sie nach eigenen Angaben ihren höchsten Umsatz überhaupt – bei gleichbleibendem Mitarbeiterstand. Neue Wege zu beschreiten erfordert Mut und ein Team, das mitgeht Wer wie Sandra Altrogge neue Wege in seinem Praxisalltag beschreiten will, sollte mutig sein, denn es gibt auch immer Veränderungen. „Man muss ausprobieren, vielleicht mal wieder etwas verwerfen und etwas anderes probieren – nur aus Fehlern kann man lernen, aber dazu muss man auch bereit sein.“ Man müsse AM Unternehmen genauso viel arbeiten wie IM Unternehmen, ist die Praxisinhaberin überzeugt – auch wenn das heißen kann, dass die Arbeit an Klient:innen möglicherweise weniger wird. Und „es erfordert ein Team, das bereit ist, so einen Weg mitzugehen, und das erkannt hat, dass Arbeit auch Spaß machen darf und ein Teil des Lebens ist, der mit Freude gelebt werden darf“. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass für die Blankoverordnung die Diagnosegruppen zügig erweitert werden. „Das ist eine tolle Chance zu zeigen, dass wir Therapeutinnen verantwortungsvoll und zielorientiert unsere betätigungszentrierte Therapie umsetzen.“ Hörtipp: Sandra Altrogge im up-podcast Im Herbst 2023 war Sandra Altrogge zu Gast im up-podcast. In der Folge "Kontrolle ist gut - Vertrauen ist besser" spricht sie u. a. über das Thema Mitarbeiterführung in der Therapiepraxis. Reinhören lohnt sich!