Mehr Lebensqualität durch Bewegung

Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 500.000 Menschen mit der Diagnose Krebs konfrontiert. Mit einem Schlag verändert sich das ganze weitere Leben. Doch in Starre zu verfallen, ist keine Option, sagt die Physiotherapeutin Carmen Schwarz. Vielmehr sollte man der Krankheit aktiv begegnen, auch mit Bewegung. Seit 2020 bietet die Praxis Rose in Hamburg-Harburg die Onkologische Bewegungstherapie an, ein personalisiertes Therapieprogramm vor, während und nach der medizinischen Behandlung unter Anleitung zertifizierter Therapeutinnen und Therapeuten. Viele Jahre herrschte unter Medizinern die Meinung vor, Krebspatientinnen und Krebspatienten sollten sich schonen. Inzwischen aber zeigt die aktuelle Studienlage, dass gezielte körperliche Bewegung Nebenwirkungen der Krebsbehandlung wie etwa Fatigue oder Polyneuropathie reduziert und die Lebensqualität der Betroffenen verbessert. Da sich aber jede Krebserkrankung anders äußert, wird das onkologische Training auf jede einzelne Person und ihre körperliche Verfassung individuell angepasst. Und es startet erst, wenn eine medizinische Unbedenklichkeits- bzw. Sporttauglichkeitsbescheinigung der behandelnden Ärztin oder des behandelnden Arztes vorliegt. Praxischefin finanzierte OTT-Fortbildung Carmen Schwarz, die seit 2008 in der Praxis Rose angestellt ist, hatte sich im Januar 2020 für eine Fortbildung zur zertifizierten OTT®-Therapeutin entschieden. „Meine Chefin wollte sich noch einmal verändern“, erinnert sie sich, „und ein Zirkeltraining in der Praxis etablieren – nicht nur für die Patienten, sondern auch für andere Klienten.“ Sie war im Gespräch mit einer Unternehmensberatung für physiotherapeutische Praxen, die den Vorschlag machte, zusätzlich ein gezieltes Bewegungstraining für onkologische Patient:innen anzubieten. Praxisinhaberin Katrin Rose nahm diese Idee auf und finanzierte Carmen Schwarz die Fortbildung zur OTT®-Therapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Erste Patienten über Kontakte durch die Fortbildung Da sich die Praxis in einem Gesundheitszentrum befindet, hatte ihre Chefin die Möglichkeit, die Praxisfläche um rund 50 Quadratmeter zu erweitern. Nachdem die Räumlichkeiten renoviert und die Geräte im August 2020 aufgestellt waren, startete Carmen Schwarz im September mit ihrer ersten Patientin, die ihr eine Teilnehmerin aus der Fortbildung vermittelt hatte. Auch die nächsten beiden Patienten fanden so den Weg in die Praxis. Werbung lief anfangs schleppend Damals kooperierte die Praxis Rose noch mit dem Modellprojekt OTT®, das alle Ärztinnen und Ärzte im Umkreis über die neue OTT®-Therapeutin per Rundmail informiert hatte. Doch es lief anfangs sehr schleppend, erinnert sich Carmen. So machte sie sich eigenständig auf den Weg zu den Ärztinnen und Ärzten, die Krebspatient:innen behandeln, um diese neue Form der Therapie bekannt zu machen. Allerdings ohne den gewünschten Erfolg. „Meist kam ich über die Rezeption nicht hinaus.“ Die onkologische Bewegungstherapie stecke noch immer in den Kinderschuhen, und ihre positiven Auswirkungen seien leider nach wie vor weitgehend unbekannt, bedauert sie. Schließlich gab sie ihren meist weiblichen Patienten einen Flyer mit, den sie in den Praxen ihrer behandelnden Ärzt:innen auslegen sollten. Mit Erfolg: Im Juni 2022 kam es zu einem ersten Kontakt mit der Gynäkologischen Praxisklinik Hamburg Harburg. Es folgte die Strahlentherapie Harburg, die seither ihre Krebspatient:innen an die Praxis Rose zur onkologischen Bewegungstherapie überweisen. Individueller Trainingsplan für jeden Patienten Derzeit betreut Carmen Schwarz zwölf Patientinnen und Patienten mit Brust- oder Prostatakrebs im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Die onkologische Bewegungstherapie eigne sich grundsätzlich für Patient:innen aller Krebsarten (Entitäten), Altersgruppen und Fitnesslevel, weiß die Physiotherapeutin. Nach einem ausführlichen Beratungsgespräch und einer Eingangsdiagnostik findet ein Probetraining statt – mit dem Ziel, einen individuellen Trainingstherapieplan mit Kraft-, Ausdauer- und Koordinationsübungen zu erarbeiten. Gemischte Trainingsgruppen mit maximal fünf Teilnehmern Nach einem Gleichgewichtstest und der Feststellung des persönlichen Leistungslevels kann das Training starten. Trainiert wird ausschließlich in Gruppen mit maximal fünf Teilnehmerinnen und Teilnehmern. „Wir bieten sowohl ‚Onko-Gruppen‘ nur mit Krebspatient:innen als auch gemischte Gruppen mit ‚gesunden’ Trainierenden an“, berichtet Carmen. Je nach trainiert. Nach zwölf Wochen wird der Status quo erneut getestet und der Trainingsplan – wenn notwendig – angepasst. Ziel sei es, die Patientinnen und Patienten so weit vorzubereiten, dass sie anschließend ein eigenständiges Training fortsetzen können. Training auf ärztliche Verordnung Für das onkologische Bewegungstraining ist eine ärztliche Verordnung erforderlich – ausgestellt auf Gerätegestützte Krankengymnastik (KG-Gerät) sowohl für Privat- als auch Kassenpatient:innen. Die AOK Rheinland/Hamburg und zahlreiche private Versicherungen übernehmen die Behandlungskosten, heißt es auf der Plattform Stärker gegen Krebs. Verordnet werden lediglich 6er-Rezepte, bedauert die Therapeutin. „Für unsere Patienten bedeutet das unnötige Wege und einen größeren Zeitaufwand, der nicht unbedingt nötig ist“, erklärt die Physiotherapeutin. „Zwei unserer Patienten haben sich daher gleich für den Vertrag entschieden, den wir allen unseren Klienten anbieten.“ Der Vertrag läuft über zehn Monate. Er kann auch nach Abschluss der onkologischen Bewegungstherapie weiter genutzt werden – mit dazu buchbaren Optionen. „So haben unsere Patienten auch nach Rückkehr in ihren Job weiter die Möglichkeit, in der ‚Onko-Gruppe‘ zu trainieren.“ Bedarf an Bewegungstherapie liegt höher als angenommen Neben Carmen Schwarz hat eine weitere Kollegin die OTT®-Fortbildung absolviert. „Der Bedarf an einer solchen Bewegungstherapie liegt weitaus höher als angenommen“, berichtet die Therapeutin. „Viele wissen nichts von dieser Möglichkeit, da die Ärzte immer noch zu wenig über das Thema aufklären.“ Carmen Schwarz hat ihre Entscheidung nicht bereut. „Es ist eine wunderbare Arbeit“, schwärmt sie. Aber wenn sie gewusst hätte, wie zäh es manchmal war, Ärzt:innen von der Verordnung der onkologischen Bewegungstherapie zu überzeugen, hätte sie die Fortbildung wohl nicht gemacht. Nichtsdestotrotz hat sie das Spektrum der Praxis erweitert und mehr onkologische Patientinnen und Patienten angesprochen. Sie würde sich wünschen, dass der Bekanntheitsgrad der onkologischen Trainings- und Bewegungstherapie weiter zunimmt – sowohl unter den Krebspatient:innen als auch unter ihren Ärzt:innen. Onkologische Trainings- und Bewegungstherapie (OTT®) als ergänzende Standardtherapie für Krebspatienten In den vergangenen Jahren wurde die Wirksamkeit von Bewegungstherapie in der Onkologie zunehmend wissenschaftlich nachgewiesen. Inzwischen arbeitet die Deutsche Krebsgesellschaft an der S3-Leitlinie „Bewegungstherapie bei onkologischen Erkrankungen“. Ziel ist es, die Bewegungstherapie als integrativen Bestandteil einer interdisziplinären onkologischen Behandlung während aller Phasen der medizinischen Behandlung von Krebspatienten zu etablieren und zum abrechenbaren Standard zu machen. Die Arbeit wird voraussichtlich Ende 2024 abgeschlossen sein. Entwickelt wurde das Modellprojekt im Jahr 2012 am Centrum für Integrierte Onkologie (CIO) an der Uniklinik Köln in Kooperation mit der Deutschen Sporthochschule. Seit 2015 finden an der Uniklinik Köln regelmäßig einwöchige Fortbildungen für Sport- und Physiotherapeut:innen statt. Weitere Infos findet Ihr hier.